
Die Pandemie und die damit verbundenen Schulschließungen fordern die gesamte Schulfamilie in besonderer Weise. Die Herausforderungen sind auch nach einem Jahr noch groß und Wege zur Bewältigung vielfältig, unsicher und ungeübt.
Die Innenperspektive
Ich merke, wie die Schulschließungen Verhaltensweisen in mir zutage fördern, die ich schon längst für überwunden gehalten habe. So sitze ich den ganzen Tag vor dem PC über meiner Arbeit. Im Laufe des Tages werde ich zunehmend unproduktiver. Mein Hang zum Perfektionismus kommt wieder raus. Meine Ansprüche an meine Arbeit werden immer höher, nichts ist gut genug. Alles was gut läuft kann und muss weiter verbessert werden. Ich will es allen Recht machen: Schülerinnen und Schülern, ihren Eltern, meinen Kolleginnen und Kollegen, der Schulleitung, mir selbst.
Zur Zeit erlebe ich die Offenheit unseres Berufs weniger als Segen und mehr als Last. Unter normalen Umständen genieße ich meinen pädagogischen und didaktischen Gestaltungsspielraum im Klassenzimmer sehr. Ich kann meinen Unterricht so durchführen, wie es mir liegt und wie ich es für richtig und sinnvoll halte. Dabei kann ich immer wieder neues ausprobieren, reflektieren, verwerfen oder adaptieren. Von Kolleginnen und Kollegen lasse ich mich dabei gerne inspirieren.
Gerade findet dieser Prozess in einer Öffentlichkeit statt, in der ich mich unwohl fühle. Alles was ich ausprobiere ist für die Eltern unmittelbar ersichtlich. Auch das regelmäßige anfängliche Scheitern wirkt dann schnell stümperhaft.
Manchmal habe ich den Eindruck, der Lehrerberuf hat gerade nur zwei Pole: Entweder machst du wenig, reduzierst deine Arbeitszeit, grenzt dich bewusst ab - dann bist du faul. Oder du bist engagiert, suchst und entwickelst ständig neue Ideen, bist erreichbar und motiviert - dann bist du selber Schuld, wenn du ausbrennst.
Das führt letztlich dazu, dass ich nicht mehr abschalten kann und permanent über Schule und meinen Unterricht nachdenke. Ich schlafe unruhig und schlecht, werde zunehmend unausgeglichener. Darunter leidet meine Arbeit und mein Privatleben, wodurch sich die Unzufriedenheit nur noch steigert.
Die Arbeit zu reduzieren ist schwer. Alles, was ich weniger tue, geht zu Lasten der Kinder. Ihnen will ich doch aber helfen. Also produziere ich noch ein Erklärvideo, mache noch eine Videokonferenz, differenziere meinen Arbeitsplan, schreibe weitere Mails und Chatnachrichten.
Die Außenperspektive
Im krassen Gegensatz dazu nehme ich die Außenperspektive auf den Lehrerberuf in Pandemiezeiten wahr. Politiker, Eltern, Talkshowteilnehmer, Journalisten und alle selbsternannten Bildungsexperten scheinen sich einig: Lehrer sind faul, inkompetent und haben gerade viel frei. Unterricht läuft schlecht immer noch schlecht. Die Digitalisierung wurde verschlafen. Zu viel bleibt an den Eltern hängen. Für Kinder ist es ein verlorenes Jahr.
An dieser Stelle will ich einmal festhalten: Politiker, Eltern, Talkshowteilnehmer, Journalisten und alle selbsternannten Bildungsexperten verstehen vom Lehrerberuf, dessen Bedingungen und Herausforderungen genauso wenig wie wir von ihren Berufen. Oben genannte Personenkreise haben an gutem Distanzunterricht genauso oft teilgenommen, wie wir an Plenarsitzungen, Talkshowproduktionen oder Redaktionsmeetings: vermutlich nie. Gegenseitiger Respekt vor den Leistungen der anderen unter diesen Bedingungen würde zwar die Einschaltquoten und Likes reduzieren, wäre aber durchaus wünschenswert.
Der Ausweg - bewusst Pause machen
Für mich ist an der Stelle eine Grenze erreicht, wo ich merke, dass ich für die Schule Nerven und Energie verbrauche, die ich dann für meine eigenen Kinder nicht mehr habe. Den Kindern meiner Klasse gegenüber muss ich immer geduldig, freundlich und hilfsbereit sein. Da darf ich nie die Nerven verlieren und unfreundlich werden. Schon gar nicht, wenn Eltern daneben sitzen (könnten).
Gerade ist dieser Punkt erreicht. Ich merke wie ich dünnhäutiger und genervter werde und es mir immer schwerer fällt freundlich zu bleiben. Also brauche ich einen Ausweg, um die nächsten Wochen zu überstehen. Ich mache jetzt wieder bewusst Pause:
Ich bin faul. In dem Lied "Lemon Tree" von Fools Garden gibt es da den wunderbaren Ausdruck "I´m wasting my time". Zeit verschwenden ist in unserer persönlichkeitsoptimierten Gesellschaft fast schon ein Verbrechen. Aber es macht Spaß. Rumsitzen und nichts tun. Wer das nicht kann, kann es lernen. Es ist toll und unglaublich erholsam. Das schöne an der Arbeit ist, dass sie meist geduldig ist und to-do-Listen auch morgen noch quicklebendig sind.
Ich schalte ab. Ich nehme mir Zeiten, in denen mir Schule und Bildungspolitik sch...egal sind. Ich schaue keine Pressekonferenzen, lese keine Nachrichten, keine Mails, keine Teams-Benachichtigungen - Nichts! Das ist nicht immer ganz einfach, deswegen brauche ich Ablenkung. Da die Möglichkeiten gerade sehr beschränkt sind, habe ich Computerspiele für mich wieder entdeckt. In den Spielen kann ich für ein paar Stunden in eine andere Welt abtauchen, in der es herrlich egal ist, wenn ich mal sterbe. Bücher lesen hat für mich den gleichen Effekt. Ansonsten putze ich gerne (da sehe ich ein schnelles Ergebnis).
Manchmal muss ich nachdenken. Dann gehe ich spazieren oder fahre Fahrrad. Ich brauche Zeit um das Erlebte, die vielen Informationen, die Unsicherheiten, Anforderungen, eigene und fremde Bedürfnisse und Ansprüche, etc. einzuordnen und zu bewerten. Frische Luft und Bewegung sind so zwei Klassiker um Stress abzubauen. Auch in einer digitalisierten Gesellschaft hilft das immer noch. Genauso wie Musik hören.
Ich werde mir selbst bewusst. Ich spüre, wie ich mich fühle und akzeptiere das. Egal wie es mir geht - es ist ok. Ich spüre meine Erschöpfung, meinen Stolz, meine Müdigkeit, meine Freude. Ich schaue, was genau mich stresst und wie ich damit umgehen kann. Dann finde ich meinen Weg. Ich werde selbstbewusst.
Eine liebe Kollegin hat mir schon vor Jahren gezeigt, dass ich jeden Tag eine Hängematte brauche. Eine Zeit nur für mich. Zum entspannen, erholen, genießen, drauf freuen. Ein bisschen Ruhe und gesunder Egoismus. Nur wenn es mir gut geht, bin ich ein guter Lehrer, Ehemann, Vater. Ausgebrannt bin ich niemand eine Hilfe. Es wird Zeit, dass ich mich wieder darauf besinne.
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