Ich habe einen spannenden Twitter-Thread des Kinderpsychiater Dierssen geklaut, den er im Mai 2020 veröffentlicht hat:
"Mein Kind ist einfach faul. Es könnte ja viel mehr erreichen, aber es will einfach nicht."
Ein Thread über das "Faulsein" - und darüber, wie der Wechsel unseres Blickwinkels schon vieles positiv verändern kann.
Was bedeutet "Faulsein" eigentlich? Es beschreibt unsere Bereitschaft, Mühe und Zeit aufzuwenden, um ein Ergebnis oder gar eine Belohnung zu erreichen.
Beispiel: Ich jäte das Unkraut, damit das Beet morgen hübsch & ordentlich ist. Wüchse es heute nacht wieder zu, jäte ich nicht.
Wie hoch ist Ihre Bereitschaft, eine Handvoll Papiere vom Schreibtisch wegzusortieren, wenn sonst nichts drauf liegt? Hoffentlich eher hoch. Das Ergebnis lässt sich sehen.
Ist aber der komplette Schreibtisch zugemüllt, ist die Bereitschaft meist geringer: Das Ergebnis lockt nicht
"Faulsein" ist keine Charaktereigenschaft. Sind Kinder "faul", stimmt meist das Verhältnis von Aufwand zu Endergebnis nicht. Das merken wir unter anderem daran, dass Kinder meist das gern und
lange tun, was ihnen liegt und zufliegt (Diabolo werfen, Programmiersprachen, Youtuben).
"Faul" sind wir, wenn wir für viel Aufwand nur wenig Ertrag erwarten: 2h Mathe machen, hinterher ist viel falsch und Papa schimpft? Keine Lust.
Oft versteckt sich hinter der "Nicht-Lust" die Vermeidung einer Überforderung. Es hat den Anschein: Das Kind könnte, wenn es wollte.
"Mein Kind kann, will aber nicht" höre ich oft. Es ist ein Satz, der Wut erzeugt. Warum muss ich mich als Vater so anstrengen, während das Kind sich verweigern darf?
Dieser Satz löst keine Probleme, belastet die Beziehung und schafft Vorwürfe und Schuldgefühle. Er kann weg.
Drehen Sie "Mein Kind kann, will aber nicht" einfach um: "Das Kind würde ja, es kann aber nicht." Vielleicht ist es gestresst, überfordert, müde, überreizt, wütend oder es traut sich nichts
zu.
Doch warum tut mein Kind dann bitte so, als hätte es bloß einfach keine Lust?
Wenn Kinder sich verweigern, ist dies anstrengend, auch für die Kinder. Immerhin zeigen diese ein Verhalten, das wahrscheinlich Schimpfen nach sich zieht. Sie riskieren was. Das tun Kinder nicht
"einfach so", sondern weil es als bessere von zwei schlechten Alternative erscheint.
Versuchen Sie, das Verweigern Ihres Kindes nicht als "lästige Fehlfunktion" zu begreifen, sondern als aktive Handlung, die oft dazu dient, das ohnehin schwache Selbstwertgefühl in diesem Moment
notdürftig zu stabilisieren. Verweigern schafft das Gefühl von etwas Selbstwirksamkeit
Ein Zaubersatz bei Kindern, die sich verweigern: "Kann es sein, dass du dich heute schon ganz schön angestrengt hast?" Dieser Satz transportiert Wertschätzung, Respekt, Lob, Empathie. Kinder
brauchen das sehr. "Wie viel Kraft hast du denn noch übrig? Wie willst du die nutzen?"
Wenn wir auch ein Stör- oder Verweigerungsverhalten von Kindern als sinngerichtet sehen, ist es leichter, sich nicht darüber zu ärgern, sich nicht als Elternteil wirkungslos zu fühlen. Verweigern
hat einen verborgenen Sinn, meist in Form eines Schutzes vor Überforderung & Frust.
Da unsere Wirklichkeit sehr durch die Sprache geprägt wird, die wir nutzen, bin ich dafür, den Begriff "faul" nur noch zu nutzen, wenn es tatsächlich um Äpfel und Birnen geht. Statt: "Du bist
stinkend faul!" besser "Wie kann ich etwas helfen, dass du es schaffen kannst?"
Das Wort "faul" ist im Deutschen äußerst negativ konnotiert. Wir denken an Antriebsschwäche, an Täuschung ("fauler Zauber"), unfaires Spiel ("Foul!") und Verwesung ("Fäulnis"). Das Wort ist ein
machtvolles Stigma. Wer es benutzt, sollte sich dessen negative Kraft bewusst machen.
Es gibt im Englischen unterschiedliche Übersetzungen des Wortes "faul".
Eine schöne ist "idle" (müßig), das als Verb sogar eine Tätigkeit beschreibt: "The boys idled in the garden." Man tut nicht "nichts", sondern treibt Müßiggang, unterhält sich, lässt die Zeit
vergehen
Wenn Ihr Kind "faul" war, die Hausaufgabenzeit vertrödelt hat, schimpfen Sie nicht. Es bringt nichts. Erkundigen Sie sich, was Ihr Kind stattdessen gemacht hat. Seien Sie neugierig. Das schafft
eine vertrauensvolle Grundlage, die Sie für den Hausaufgabenrest dringend brauchen.
Den vollständigen Text gibt es hier: https://www.oliver-dierssen.de/post/mein-kind-ist-einfach-faul
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