
Ungefähr seit Ostern 2019 bin ich auf dem Weg zum Flipped Classroom in der Grundschule. Wobei es mir schwer fällt, ein Anfangsdatum zu definieren. Wann fing mein Weg an - mit der ersten latenten Unzufriedenheit, mit dem ersten bewussten Gedanken, der ersten Recherche oder der ersten Veränderung im Unterricht?
Da nur letzteres für mich halbwegs greifbar und dokumentiert ist, nehme ich das als Beginn meiner Reise. Seitdem hat sich viel getan und ich bin schon weit gekommen. Zeit für mich wieder einmal ein Zwischenfazit zu ziehen.
Mein Unterricht
Dieses Mal mache ich es anders. Ich habe jetzt die dritte Klasse, in der ich nach der Idee des Flipped Classroom in der Grundschule unterrichte und es ist an der Zeit, es anders zu machen. Neuer Abzweig auf meinem Weg - neue Ideen, neue Fehler, neue Erfolge.
Im Rückblick auf die letzten Jahre ist vieles gut gelaufen. Ich glaube, dass ich meine Klassen gut durch die Zeit von Corona und Schulschließungen geführt habe und sie in großen Teilen fähig waren, relativ selbstständig zu lernen. Auf der anderen Seite war meine Klasse in offenen Phasen oft unruhig und orientierungslos. So haben die Kinder wenig zielgerichtet und produktiv gelernt und konnten weder mit Erklärvideos noch in Gruppenarbeiten viel anfangen.
Das möchte ich diesmal besser machen, ohne meine Erfolge rückgängig zu machen.
Deswegen fange ich in meiner derzeitigen Klasse geschlossener an. Es gibt mehr ruhige, lehrerzentrierter Einzelarbeitszeiten, in denen ich mit den Kindern konzentriertes und diszipliniertes Lernen aufbaue. Sie sollen lernen trotz Ablenkungen ruhig zu bleiben und sich aktiv am Unterricht zu beteiligen. So möchte ich Überforderung durch zu viel Freiheit und Verantwortung vermeiden.
Die Kinder lernen zu lernen und zu leisten und ich lerne die Kinder, ihr Sozial- und Arbeitsverhalten und ihr Lerntempo und -niveau kennen. Ich beobachte die Kinder genau und stelle fest, wer wieviel Hilfe, Anleitung, Unterstützung braucht, wer auch unbeaufsichtigt fleißig lernt, wem ich helfen muss und wer selbst Hilfe einfordert. Dafür habe ich mir ein halbes Jahr Zeit genommen.
Dann führe ich in Ruhe die iPads ein. Zunächst liegt der Fokus auf Übungen in der AntonApp. Die Kinder lernen die iPads als Arbeitsmittel kennen, machen sich mit der Bedienung vertraut und bekommen erste digitale Aufgabenstellungen. Die iPads werden eng geführt in den Unterricht integriert und ergänzen das bisherige Geschehen.
Parallel dazu erstelle ich bei BookCreator eBooks, die die jeweils aktuelle HSU-Sequenz begleiten. Dort finden die Kinder und Eltern nicht nur die Einführungen, Erklärungen und Hefteinträge, sondern auch ergänzende Videos und Informationen.
Im nächsten Schritt erstellen die Kinder ein Referat. Hier liegt mein Fokus auf der Einführung weiterer Apps (BookCreator, Safari, Fotos, etc.) und deren Handhabung. Neben der Vorbereitung und Durchführung des Referates steht für mich das Erlernen vielfältiger digitaler Kompetenzen im Zentrum der Sequenz (recherchieren, produzieren, präsentieren, reflektieren, ...).
Gleichzeitig setze ich die iPads zunehmend in verschiedenen Fächern ein: Garageband in Musik, Erklärvideo in Mathe, Kamera in Kunst, Abfrage in HSU, ... Es wird somit ein vielfältiger und fester Bestandteil meines Unterrichts.
Die verstärkte Ausrichtung und Einübung von Gruppenarbeitsphasen in verschiedenen Modellen dient mir der Vorbereitung auf offene und soziale Lernphasen. Auch die Sitzordnung wird entsprechend angepasst. Dank Einzeltischen kann sie auch für ruhige Übungsphasen verändert werden, um Ablenkungen an Gruppentischen zu reduzieren.
Mein Unterricht wird allmählich zunehmend offener. Ich zeige den Kindern verschiedene Apps, mit denen sie kreativ, produzierend, gestalterisch werden können. Dadurch will ich zielorientierter arbeiten, statt die Kinder total frei explorieren zu lassen. Das war in den letzten Jahren ziellos, unproduktiv und für mich frustrierend.
Später sollen die Kinder in offenen Phasen nach eigenen Interessen kreativ werden und in geschlossenen Phasen Lernvideos kreativ umgestalten, also zum Beispiel Erklärungen als Stop-Motion-Film, bei ScratchJr. oder bei BookCreator aufarbeiten. So hoffe ich, dass es produktiver und gewinnbringender wird, die Kinder Selbstwirksamkeit erleben und stolz auf ihre Ergebnisse sind.
Geflippte Fortbildung
Seit mein Buch zum Flipped Classroom in der Grundschule im Dezember 2021 erschienen ist, habe ich weiter viel über das Thema nachgedacht und ich war gespannt, wieviele Menschen sich für das Thema interessieren und bereit sind mein Buch zu kaufen.
Freudig überrascht war ich, als sich die Rektorin einer Grundschule im benachbarten Schwabach bei mir meldete und mir schrieb, dass sie eine Schullizenz für mein Buch erstanden haben und als Kollegium meine Ideen umsetzen wollen. Die Einladung für eine Schilf nahm ich natürlich gerne an. Passend zum Thema war es eine geflippte Fortbildung, in der die Teilnehmer:innen sich vorher mit dem Konzept beschäftigt und erste Erfahrungen gesammelt haben und wir uns dann getroffen haben, um uns auszutauschen und weiterzudenken.
Für mich war es ein sehr spannendes Erlebnis, dass ich eine Schilf für eine Schule halten durfte. Es war das erste Mal, dass ich etwas Feedback auf mein Buch, meine Gedanken und Ideen bekam. Es war toll zu sehen, wie meine Idee fruchtet und umgesetzt wird und so viele verschiedene Erfahrungen entstehen, von denen ich auch profitiere. Der Austausch mit dem Kollegium vor Ort empfand ich als total bereichernd.
In der Vorbereitung auf die Schilf habe ich über einzelne Stellschrauben meines Konzeptes vertieft nachgedacht, um meine Erfahrungen seit Veröffentlichung des Buches einfließen zu lassen und auf die Fragen der Kolleg:innen eingehen zu können.
Zentrale Themen war die Kooperation mit Hort und Elternhäusern, die nicht immer rund läuft und einer Umsetzung des Flipped Classrooms große Steine in den Weg legen kann. Durch den In-Class-Flip kann da viel erleichtert werden, auch wenn er im Ganztagsbetrieb einfacher umzusetzen ist als im Halbtag.
Daneben hat uns der Aufbau der "Video-Schau-Kompetenz" beschäftigt, also wie die Kinder lernen, gezielt Informationen aus einem Video zu entnehmen und diese weiterzuverarbeiten. Konkrete Aufgaben helfen die Aufmerksamkeit zu lenken, Hefteinträge zu erstellen und die audiovisuellen Informationen verbal umzustrukturieren. Hier braucht es noch lange viel Hilfe, Führung, Anleitung.
Schließlich stand noch die Frage nach einer sinnvollen Umgestaltung des Unterrichts im Raum. Wichtig war für mich hier der Gedanke, dass anders als bei älteren Schülerinnen und Schülern weniger Aufgaben zu Anwendung, Transfer und Problemlösung vorrangig sind. Das wird in der Grundschule - der Schule für alle Kinder - schnell zu schwer und überfordert viele Kinder. Der Fokus bleibt zunächst auf Austausch, Übung und Wiederholung. Daran anknüpfen können aktive, produktive, kreative Aufgaben zur Verarbeitung des neu erworbenen Wissens und zur Verknüpfung mit dem Vorwissen und Erfahrungen der Kinder. Erst gegen Ende einer Sequenz, wenn die Kinder viel Wissen erworben und verstanden haben, können sie es auf neue Fragen transferieren. Dabei müssen wir als Grundschullehrkräfte einplanen, dass nicht alle Kinder dazu in der Lage sein werden.
Daneben ist der Erwerb von (digitalen, sozialen, persönlichen) Kompetenzen ein legitimer Selbstzweck (Kooperation in der Gruppenarbeit, kreative Umsetzung des Gelernten, Selbständigkeit, Einhaltung respektvoller Gesprächsregeln, Lernmotivation, Organisation des Prozesses, etc.). Diese Kompetenzen müssen in Ruhe sorgfältig aufgebaut, eingeübt und gefestigt werden, da sie eine wichtige Grundlage für weiteres schulisches lernen sind.
Kollegialer Austausch
Anfang Januar 2023 veröffentlichte Sebastian Schmidt auf seinem Blog sein Fazit nach 10 Jahren Flipped Classroom. Obwohl ich noch weit entfernt von diesem Meilenstein bin, war ich so frei und habe ihn angeschrieben. Ein paar Gedanken aus dem folgenden Gespräch möchte ich mir festhalten.
- Mein bisheriger Weg ist gar nicht so schlecht. Sebastian Schmidt stand (und steht) vor ähnlichen Herausforderungen und hat ähnliche Erfahrungen gemacht wie ich.
- Die Unterschiede im Flipped Classroom zwischen Realschule und Grundschule sind nicht so groß, wie ich dachte. Wir müssen beide unseren Klassen erstmal das Video schauen beibringen und stehen dabei vor ähnlichen Herausforderungen. Am Anfang ist viel Erklärung, Hilfe und Führung nötig. Die Elternakzeptanz ist mal gut, mal schlecht. Während ich in der Grundschule allerdings damit zu kämpfen haben, dass ich viele grundlegende Kompetenzen erst aufbauen muss, sind meine Kinder wenigstens motiviert zu lernen. Er kann dagegen mehr Fähigkeiten voraussetzen, muss dafür aber Teenager motivieren.
- Für ihn ist inzwischen der Austausch mit Kolleginnen und Kollegen sehr schön und entlastend. In einem Netzwerk von Mathelehrkräften denken viele Köpfe, bereiten viele Hände vor und profitieren viele Schülerinnen und Schüler in vielen Unterrichtsstunden. Dieser Austausch fehlt mir, weil ich kaum jemand kenne, der ähnliche Ideen und Ziele verfolgt. Für ein Netzwerk ist das Thema Flipped Classroom in der Grundschule vielleicht zu klein.
- Neuer Denkansatz für mich war sein Sequenzaufbau: Er fängt mit einer vorbereitenden Hausaufgabe an, wo die Kinder Vorwissen sammeln und kreativ werden. Dann erklärt und übt er in der Schule und die Kinder tauschen sich über ihre Hausaufgaben aus. Erst dann folgt das Erklärvideo mit Hefteintrag und am Ende Anwendung, Übung, Transfer. Eine Sequenzverlauf, den ich mir auch in der Grundschule vorstellen kann und den ich ausprobieren werde.
Viele Gedanken mache ich mir weiter zum Thema (Klassen-)Führung. Ich merke gerade: von allein können die Kinder vieles nicht. Wenn ich meinen Unterricht zu schnell öffne, verlange ich zuviel (Selbstständigkeit, Disziplin, Eigenverantwortung, Anstrengungsbereitschaft, etc.) von ihnen.
Kompetente Schülerinnen und Schüler brauchen kompetente Lehrerinnen und Lehrer, die weit in die Zukunft denken und ihr Handeln entsprechend planen. Durch meine enge Führung bei Routineaufgaben und am Anfang eines Schuljahres ermögliche ich es den Kindern Kompetenzen aufzubauen und (Lern-)Erfahrungen zu machen, von denen sie dann im zunehmend offenen und selbstbestimmten Unterricht profitieren. Erst wenn sie dazu fähig sind, entlasse ich sie in mehr Freiheit und Eigenverantwortung.
Um mit digitalen Geräten lernen zu können, müssen sie viel lernen. Was für mich selbstverständlich und gewohnt ist, ist für sie neu. Implizites Wissen und Können muss ich explizit verbalisieren, bewusst machen und reflektieren.
Manchmal muss ich einen Schritt zurückgehen, um einen neuen Abzweig zu nehmen.