Nach langer Wartezeit war es endlich wieder soweit. Ich durfte an einer Schule im Unterricht hospitieren. Diesmal wollte ich meinen Horizont erweitern und meine Komfortzone weit hinter mir lassen. Deswegen bin ich an eine freie Waldorfschule gegangen.
In der ersten Doppelstunde war ich in einer 3. Klasse mit 21 Kindern, größtenteils Mädchen. Die Klasse hatte Hauptunterricht, in dem immer 3-4 Wochen lang ein Thema behandelt wird. Die Themen würde man an staatlichen Schulen den Fächern Deutsch, Mathe, HSU zuordnen. Es wird also mal 4 Wochen gerechnet, dann 4 Wochen Geschichten geschrieben, dann 4 Wochen Pflanzenkunde, etc.
Die Lehrkraft, welche die Klasse normalerweise von der 1. bis zur 8. Klasse führt, begann den Tag ohne Gong um kurz nach Acht mit vielen Ritualen: Gedicht gemeinsam sprechen, "Gebet", Erzählen, Schülerbilder besprechen, Frühsport und Geschichte vorlesen.
Dann besprach die Klasse kurz den gestrigen Ausflug in die Schmiede. Die Lehrerin wollte, dass jedes Kind ein Dankesschreiben gestaltet. Sie schrieb einen Text an die Tafel, den die Kinder schön abschrieben und ein Bild dazu malten.
Nach einer weiteren Geschichte (Thema Noah und die Arche) war auch schon Essens- und dann Hofpause.
Danach war ich in einer 5. Klasse mit 16 Kindern im Matheunterricht. Zu Beginn wurde gemeinsam ein Gedicht für die Monatsfeier geübt, Lieder gesungen und dann Mathe geübt. Zum Schluss der Stunde wurde das Gedicht noch einmal geübt.
In Mathe kamen tatsächlich nicht alle mit, es wurde ein bisschen gefordert (Quadratzahlen auswendig wissen, Brüche verstehen), manche wurden unruhig, unaufmerksam, unkonzentriert, vorlaut.
Eine Woche später durfte ich noch einmal wiederkommen und diesmal eine 6. Klasse in Physik besuchen. Der Unterricht war wieder sehr altmodisch, lehrerzentriert und langsam. Der Fokus lag interessanterweise weniger auf wissenschaftlichen Erkenntnissen, sondern stark auf dem Erleben und Empfinden von physikalischen (akustischen und optischen) Phänomenen. Die wissenschaftliche Erklärung war zweitrangig.
Im Nachhinein sind mir wieder einige Gedanken gekommen und Eindrücke hängen geblieben:
- Die Kollegen und Kolleginnen waren sehr nett und offen für mich und meine Fragen. Auch die Kinder haben auf mich einen freundlichen und friedlichen Eindruck gemacht.
- Augenscheinlich auffällig waren die überdurchschnittlich vielen Jungs mit langen Haaren.
- Es wirkt wie eine Schule ohne Leistung - positiv wie negativ - allumfassend
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- Die Kinder fühlen sich sichtbar wohl und kommen gerne in die Schule.
- Es ist eine enge Bindung zu den Kindern möglich, man verbringt viele Jahre miteinander, die Lehrkraft ist selten die Böse.
- Die Kinder sind sehr friedlich, freundlich, fröhlich, ruhig, fühlen sich wohl, sind selbstständig, freiheitsliebend, kreativ, privilegiert.
- Der Unterricht ist entspannt, druckfrei, künstlerisch, sozial, handelnd, gestaltend, schön, mit vielen Geschichten, Gedichten, Liedern und Religion.
- Die staatliche Schule ist für Alle - Waldorf ist exklusiv für Privilegierte
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- Es gibt wenige Regeln, dafür viel Struktur durch Rituale und gemeinschaftsfördernde Elemente wie gemeinsames Sprechen von Gedichten, singen von Liedern, hören von Geschichten.
- Der Unterricht ist sehr altmodisch.
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- keine Digitalisierung (weder L noch SuS) - passt nicht zur Pädagogik, keine Technik im Klassenzimmer, die Klassenzimmer sind schön aber alt.
- alte Geschichten, Sprache, Gedichte, Lieder, Bücher
- immer zusammen im Gleichschritt, keine offenen Arbeitsphasen, keine Differenzierung, sehr lehrerzentriert, viel Auswendiglernen und aufsagen, sehr ruhig, sehr langsam!
- Es ist ein privilegierter Unterricht
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- druckfreies Lernen für die, die keinen Druck brauchen, die keine Leistung zeigen müssen -> privilegiertes Elternhaus und privilegierte Arbeitsstätte
- Warum ist von all diesen Kindern kein Kind im Unterricht über- oder unterfordert? - Wer nicht gefordert wird, kann auch nicht über- oder unterfordert sein. Wer keine Leistung zeigen muss, kann auch nicht an Ansprüchen scheitern.
- Die Kinder sind schon gut verwurzelt, haben ein sehr stabiles Fundament für ihr Leben und bekommen in der Schule einen (Schutz-)Raum und Möglichkeit sich persönlich zu entfalten.
- Waldorf bereitet die Kinder auf ihr Leben vor, indem sie vieles ausprobieren können, viel Zeit und Raum haben, wenig bis keinen Druck bekommen, viel Schönes erfahren -> Persönlichkeitsentwicklung, Kreativität, Selbstbewusstsein, Selbstständigkeit (=Seifenblase)
- Staatliches Schulsystem unterliegt viel mehr Zwängen (Behörden und Ämter, Vorgaben, Heterogenität der Schüler, Anforderungen von Eltern/Wirtschaft/Politik/Gesellschaft) und bereitet die Kinder auf ihr Leben vor, indem es Inhalte vermittelt, Regeln erzieht, Kompetenzen beibringt, Leistung fordert und fördert (= meine Realität)
Ich frage mich:
Wie kann eine so altmodische Schule (Pädagogik, Didaktik) auf ein Leben in einer modernen Gesellschaft vorbereiten?
- Ich bezweifle nicht, dass die Absolventen einer Waldorfschule lebens- und berufsfähig sind. Der Lehrplan in der Mittel- und Oberstufe orientiert sich zwangsläufig stark an den staatlichen Vorgaben, denn sonst wäre kein anerkannter Schulabschluss möglich. Inhaltlich wird also auch eine Allgemeinbildung vermittelt und Grundkenntnisse gelehrt.
- Daneben stehen aber die Betonung von Handwerk und Bildhaftigkeit an der Waldorfschule im Kontrast zur Digitalisierung / KI / Textlastigkeit. Ich habe keine Ahnung, wie sich diese konträren Schwerpunkte später auswirken.
- Die Kinder bringen viele Kompetenzen schon aus ihrem familiären und soziokulturellen Umfeld mit. Die weitere Entwicklung der persönlichen, sozialen, emotionalen und Lernkompetenzen findet wahrscheinlich ähnlich wie an allen anderen Schulen statt.
- Kritisch sehe ich, wie der langsame und frontale Unterricht auf die schnelle und flexible Arbeitswelt vorbereiten soll. Fächer, die auf "-kunde" enden, laden nicht zum selbstständigen und entdeckenden Lernen ein.
- Die Betonung auf Gefühle, persönliches Erleben und Lebensnähe verhindert (oder erschwert) teilweise fachlich korrektes Arbeiten und klare Definitionen. Erschwerend kommt hinzu, dass die Lehrkräfte normalerweise alle Fächer von der 1. - 8. Klasse unterrichten. Da ist ein breites Wissen wichtiger als tiefes Wissen und kontinuierliche Fortbildungen sind kaum machbar.
- Persönlich sehe ich auch die fehlende Digitalisierung kritisch. Im Unterricht finden die 4K keinerlei Berücksichtigung (Kreativität, Kommunikation, Kollaboration, kritisches Denken), sodass die Kinder diese wichtigen Kompetenzen nicht erlernen. Auch gibt es keine Einführung in das Lernen und Arbeiten mit digitalen Medien, wodurch der Erwerb von medienpädagogischen Kompetenzen schwer bis unmöglich wird (suchen, verarbeiten, kommunizieren, kooperieren, produzieren, präsentieren, analysieren, reflektieren).
Am Ende hinterlassen mich die Besuche seltsamerweise ein kleines bisschen wütend auf diese Schule ohne Leistung und ohne Druck. Dort fordert keine Gesellschaft zuviel von den Lehrkräften, keine Erwachsenen fordern zuviel von den Kindern, kein System fordert zuviel von den Beteiligten. Es ist eine schöne privilegierte Blase, in der nur wenige Platz finden um sich dort auf eine Art und Weise zu entfalten, die den meisten ihr Leben lang vorenthalten bleibt. Der Unterricht darf herrlich bequem altmodisch sein und sich allem gesellschaftlichen Wandel verschließen, weil niemand erwartet, dass Schule auf alle Herausforderungen unserer modernen Gesellschaft vorbereitet und sie löst.
Ich gönne jedem Kind, jedem Jugendlichen, jedem Erwachsenen, das in dieser schönen Blase leben, lernen und arbeiten darf von Herzen sein Glück. Und doch wird an ihr große Ungerechtigkeit offenbar.
Die Schule ist im doppelten Sinn exklusiv. Einerseits weil sie nur für einen kleinen privilegierten Personenkreis zugänglich ist und diesem besondere Möglichkeiten bietet. Andererseits weil auch hier alle ausgeschlossen werden, die stören. 90% der Schulabgänger müssen wohl wegen Verhaltensproblemen gehen, die anderen 10% wechseln wegen Umzug die Schule. Warum hat eine Waldorfschule keine Antwort, keine Lösung, kein Verständnis für die Probleme und das daraus resultierende Verhalten von Kindern und Jugendlichen?
Die Pädagogik scheint mir nur vordergründlich die Kinder in den Mittelpunkt zu stellen, sie ist auch für alle beteiligten Erwachsenen sehr bequem. Kein Leistungsdruck und keine Noten bedeuten auch für Lehrkräfte und Eltern weniger Stress, Konflikte, Erwartungen und Frust.
Eine Schule ohne Leistung erscheint mir nicht erstrebenswert. Das Problem ist m.E. weniger der Leistungsgedanke in den Schulen (Kinder wollen leisten) und auch nicht die Bewertung der Leistung durch Noten (oder qualitatives, leicht verständliches Feedback). Das Hauptproblem sehe ich inzwischen in der Bewertung der Bewertung, also in "guten" und "schlechten" Noten. Und vielleicht auch in der Personalunion von Beratung und Bewertung.
Auch hier muss ich wieder deutlich sagen, dass meine Eindrücke und Gedanken nur auf wenigen Stunden aufbauen und ich mich nicht intensiv mit der Steiner-Pädagogik auseinandergesetzt habe. Meine Gedanken sollen nur meine Eindrücke beschreiben und auf keinen Fall abwertend verstanden werden. Die Hospitation an der Waldorfschule hat mich sichtbar zum Nachdenken angeregt und gerade das Fremde hat mich verstört und kritisch hinterfragt.
Ich denke, dass viele Absolventinnen und Absolventen einer Waldorf-Schule als als fröhliche, friedliche und freundliche Menschen sicher durch ihr Leben gehen und ihren Weg finden. Wenn es diese Schule schafft, Kindern und Jugendlichen eine schöne, unbeschwerte Schulzeit zu schenken, hat sie in meinen Augen ihren Platz und Wert verdient.
Meine Welt ist es nicht, aber jedes Mal wenn ich etwas Neues kennenlerne, kann ich das Alte mehr schätzen. Ich bin glücklich an meiner Grundschule und dort am richtigen Platz.
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